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Veterinary Focus

Ausgabe nummer 33.2 Human Resources

Effektive Bewältigung von Fehlern

veröffentlicht 17/11/2023

Geschrieben von Marie K. Holowaychuk

Auch verfügbar auf Français , Italiano , Español und English

Fehler passieren uns allen in der tierärztlichen Praxis. Dieser Artikel befasst sich mit der Frage, wie Menschen auf unterschiedliche Weise reagieren, wenn etwas schief geht, und – ganz wichtig – diskutiert, wie wir am besten mit Fehlern umgehen können.

Wenn ein Fehler gemacht wurde

Kernaussagen

Fehler kommen in der tierärztlichen Praxis häufig vor und können für Tierärzte und Tierärztinnen erhebliche Konsequenzen haben, wenn eine Kultur von „Schuld und Scham“ herrscht.


Unerwünschte Ereignisse, bei denen ein Fehler zur Schädigung eines Patienten führt, haben mit höherer Wahrscheinlichkeit längerfristige negative Auswirkungen auf das Leben eines Tierarztes oder einer Tierärztin als harmlose Fehler. 


Durch Offenlegung des Fehlers gegenüber dem Tierhalter, Aufklärung technisch-fachlicher Aspekte als Beitrag zur Verhinderung einer Wiederholung des Fehlers, und Unterstützung durch andere Personen wird die Erholung nach einem Fehler gefördert.


Emotionales Lernen stärkt die Resilienz nach einem Fehler. Dazu können gehören das Praktizieren von Achtsamkeit, das Streben nach Exzellenz anstelle von Perfektion und die Kultivierung von Selbstmitgefühl.


Einleitung

Bei jeder menschlichen Tätigkeit ist ein gewisses Maß an Fehlern nahezu unvermeidlich, und dies bedeutet natürlich, dass auch Tierärzte und Tierärztinnen im Rahmen ihrer klinischen Tätigkeit nicht davor gefeit sind, Fehler zu machen. Und in der Tat sind Fehler ein unvermeidlicher Bestandteil der tierärztlichen Praxis. Auch wenn Fehler im Laufe einer beruflichen Karriere durchaus zu erwarten sind, gehört die Angst vor Fehlern nach wie vor zu den von Tierärzten und Tierärztinnen am häufigsten genannten praxisbezogenen Stressfaktoren 1. Durch moralischen Stress kann diese Angst dann noch zusätzlich verstärkt werden, wenn man unter Umständen arbeitet, die zu ethischen Konflikten führen 2. Zum Beispiel, wenn ein personell unterbesetztes Praxisteam einen hoch komplexen Fall managen muss oder wenn ein Tierarzt gebeten wird, einen chirurgischen Eingriff vorzunehmen, für den er sich nicht ausreichend qualifiziert oder ausgebildet fühlt. In solchen Situationen, die zusätzlich auch noch moralischen Stress hervorrufen, steigt dann das wahrgenommene Fehlerrisiko, und Tierärzte oder Tierärztinnen sind umso anfälliger für psychischen Stress.

Ängste im Zusammenhang mit Fehlern beziehen sich aber nicht nur auf den potenziellen Schaden für das Tier, sondern auch auf mögliche Rechtsstreitigkeiten, Beschwerden bei der tierärztlichen Aufsichtsbehörde und nicht zuletzt die Wahrnehmung durch Kunden und Kollegen. In vielen Fällen ist es deshalb der erste Impuls, den Fehler zu verheimlichen, weil man fürchtet, beschuldigt zu werden oder persönliche Schamgefühle zu entwickeln. Einige Tierärzte und Tierärztinnen, denen Fehler unterlaufen oder die mit unerwünschten Ereignissen konfrontiert werden, verfügen über das Potenzial, sich dank ihrer eigenen Fähigkeiten und mit Hilfe von Resilienz fördernden Bewältigungsstrategien schnell wieder zu erholen. Andere Kollegen dagegen, die länger an einem Fehler zu knabbern haben oder sich einer übermäßigen schaminduzierten Selbstkritik hingeben, neigen dann eher dazu, über längere Zeit Stress zu empfinden, oder denken unter Umständen sogar darüber nach, den Beruf gänzlich an den Nagel zu hängen. Vor diesem Hintergrund müssen wir einige wichtige Schritte gehen, um die Idee zu akzeptieren, dass Fehler ein ganz normaler Teil der tierärztlichen Praxis sind, um die in der Tiermedizin nach wie vor herrschende Kultur von „Schuld und Scham“ zu überwinden und schließlich, um Fehlern mit Offenheit, Perspektive, Unterstützung und technisch-fachlichem sowie emotionalem Lernen auf achtsame Weise zu begegnen. Fehler sind also ein unvermeidlicher Teil der tierärztlichen Praxis und erfordern ein hohes Maß an Achtsamkeit, um sich schnell und effektiv davon zu erholen. 

Wie häufig sind medizinische Fehler? 

In den Vereinigten Staaten ereignen sich in der Humanmedizin jedes Jahr etwa 1,5 Millionen vermeidbare unerwünschte Ereignisse, mit jährlich nahe 100.000 Todesfällen, die auf medizinische Fehler zurückzuführen sind 3. In der Veterinärmedizin wurde die Inzidenz von Fehlern bisher nicht so präzise quantifiziert, sie dürfte aber ähnlich hoch liegen. Eine kürzlich durchgeführte Studie evaluierte Art und Schweregrad medizinischer Fehler in drei veterinärmedizinischen Einrichtungen in den USA (eine universitäre Kleintierklinik, eine universitäre Großtierklinik und eine multidisziplinäre Kleintierpraxis) anhand eines freiwilligen Meldesystems für unerwünschte Ereignisse. Die Fehler wurden kategorisiert und wie in Tabelle 1 mit Beispielen beschrieben. Darüber hinaus wurden die Ereignisse klassifiziert nach Beinahe-Fehlern (d. h., der Fehler hat den Patienten nicht erreicht, hätte aber einen Schaden verursachen können, wenn er ihn erreicht hätte), harmlosen Fehlern (d. h., der Fehler hat den Patienten erreicht, hat aber keinen Schaden verursacht), unerwünschten Ereignissen (d. h., der Fehler hat den Patienten erreicht und einen Schaden verursacht) oder einem unsicheren Zustand (d. h., ein Umstand oder ein Zustand hat die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses im Bereich der Patientensicherheit erhöht). Die Patientenjournale wurden retrospektiv analysiert, um den Schweregrad des Fehlers zu beurteilen 4. Während der dreijährigen Studie wurden insgesamt 560 Ereignisse gemeldet, was etwa fünf Fehlern pro 1000 Patientenbesuchen entspricht. Diese Quote liegt deutlich höher als in der humanmedizinischen Primärversorgung, wo etwa 1 von 1000 Besuchen zu einem vermeidbaren Schaden führt. Fehler im Zusammenhang mit der Medikation wurden in der Studie am häufigsten festgestellt, gefolgt von Kommunikationsfehlern. In 45 % der Fälle erreichten die Fehler die Patienten, ohne Schaden anzurichten, aber 15 % aller Ereignisse führten zu einer Schädigung des Patienten, darunter 8 %, die zu einer dauerhaften Erkrankung oder zum Tod führten. Der höchste Anteil an Fehlern trat in der universitären Kleintierklinik auf, dies ist aber möglicherweise lediglich auf eine sorgfältigere Berichterstattung zurückzuführen 4.

Eine weitere Studie untersuchte verschiedene Arten von Fehlern auf der Grundlage von fast 3.000 Schadensmeldungen, die beim wichtigsten veterinärmedizinischen Haftpflichtversicherer im Vereinigten Königreich eingereicht wurden. Dabei stellte sich heraus, dass Fehler im Zusammenhang mit chirurgischen Eingriffen am häufigsten vorkamen (41 %), gefolgt von medizinischen Behandlungen (30 %), Geburten (13 %), Diagnosen (9 %), Beratungen (5 %) und Anästhesie (2 %). Die weitere Auswertung einer Teilmenge dieser Schadensmeldungen ergab, dass 51 % der Fehler auf kognitive Einschränkungen in Form von Fehlern durch Unaufmerksamkeit und Ablenkung oder regel- oder wissensbasierte Fehler zurückzuführen waren. Regelbasierte Fehler resultieren aus einer falschen Anwendung von Wissen, während wissensbasierte Fehler das Ergebnis inkorrekter Versuche der Lösung komplexer Probleme sind 5.

Tabelle 1. Kategorien, Beschreibungen und Beispiele für medizinische Fehler in der tierärztlichen Praxis.

Kategorie Beschreibung Beispiel
Arzneimittel Ein Fehler bei der Verabreichung von Arzneimitteln  Falsches Arzneimittel an einen Patienten verabreicht 
Iatrogen Ein Fehler bei Verfahren oder Behandlungen (außer Arzneimittel)  Ein technischer Fehler bei einem chirurgischen Eingriff 
System Verzögerungen, versäumte Behandlungen oder Probleme mit dem Protokoll  Eine Person vergisst, eine Behandlung durchzuführen
Kommunikation Verwirrung über Behandlungsanweisungen für Patienten  Ein Kommunikationsfehler führt dazu, dass der falsche Patient behandelt wird
Labor Eine verlorene oder falsch beschriftete Probe  Eine Person beschriftet ein Blutröhrchen falsch, mit der Folge einer falschen Zuordnung der Ergebnisse 
Überblick Eine Diagnose wird übersehen oder es wird vom Behandlungsstandard abgewichen Ein Tierarzt diagnostiziert bei einem Patienten fälschlicherweise eine Niereninsuffizienz anstelle einer Addison-Krankheit 
Personal Personalmangel oder unzureichende Ausbildung führen zu einem Fehler  Ein ungeschultes Teammitglied führt eine Ernährungssonde fälschlicherweise in die Atemwege eines Patienten ein 
Equipment Ein Gerät/Instrument ist nicht verfügbar oder defekt  Ein Monitor ist defekt und damit nicht verfügbar, um das EKG eines Patienten zu überwachen und eine Arrhythmie zu erkennen

Fehler in die richtige Perspektive rücken 

Eine 2001 durchgeführte Umfrage unter mehr als 100 frisch approbierten britischen Tierärzten und Tierärztinnen ergab, dass 78 % der Befragten seit Beginn ihrer praktischen Tätigkeit einen Fehler gemacht hatten 6. Es sollte jedoch klargestellt werden, dass nicht alle Fehler tatsächlich auch zu Schäden führen, ebenso wie nicht alle unerwünschten Ereignisse auf Fehler zurückzuführen sind. Und während einige fehlerbedingte unerwünschte Ereignisse auf Nachlässigkeit zurückzuführen sind (d. h. auf die Nichteinhaltung des Behandlungsstandards), kann es vorkommen, dass ein Tierarzt oder eine Tierärztin zwar das richtige Verfahren einhält, dann aber einen Fehler im praktischen Prozess macht. So kann beispielsweise der medizinische Standard eingehalten werden, indem man eine Röntgenaufnahme anfertigt, um sicherzustellen, dass eine nasale Ernährungssonde korrekt im Gastrointestinaltrakt platziert ist, um dann aber bei der Begutachtung der Röntgenaufnahme zu der Einschätzung zu kommen, dass die Sonde richtig liegt, wobei diese tatsächlich aber versehentlich in den Atemwegen platziert wurde. Die Folge wäre ein unerwünschtes Ereignis, wenn dem Hund dann Nahrung über diese Sonde verabreicht wird (Abbildung 1). Gelegentlich machen sich Tierärzte oder Tierärztinnen aber auch für unvorhersehbare Komplikationen verantwortlich, wie z. B. eine Arzneimittelreaktion oder Probleme aufgrund der inhärenten biologischen Variabilität ihrer Patienten. Dabei wird dann gern vergessen, dass unterschiedliche Tiere, die wegen derselben Krankheit auf dieselbe Weise behandelt werden, sehr unterschiedliche Outcomes entwickeln können. Diese Szenarien sind dann zwar nicht das Ergebnis eines Fehlers, der Tierarzt oder die Tierärztin könnte aber dennoch versucht sein, die Verantwortung für seinen Entscheidungsprozess zu übernehmen, der letztlich zu dem ungünstigen Outcome geführt hat. 

Diese Röntgenaufnahme eines Hundes zeigt eine nasale Ernährungssonde

Abbildung 1. Diese Röntgenaufnahme eines Hundes zeigt eine nasale Ernährungssonde, die fälschlicherweise in die Atemwege anstatt in den Ösophagus gelegt wurde. 
© Marie K. Holowaychuk

Folgen von Beinahe-Schäden und unerwünschten Ereignissen

Die Ergebnisse einer Online-Umfrage unter mehr als 600 Mitgliedern des Veterinary Information Network zeigen, dass 74 % der Befragten von mindestens einem Beinahe-Schaden berichteten, und 30 % von mindestens einem unerwünschten Ereignis 7. Der Anteil der Tierärzte und Tierärztinnen, die sowohl kurzzeitige (≤ 1 Woche) als auch längerfristige (> 1 Woche) negative Auswirkungen auf ihr persönliches und berufliches Leben zu spüren hatte, war bei den Befragten, die mit unerwünschten Ereignissen konfrontiert waren, höher als bei Kollegen, die es mit Beinahe-Schäden zu tun hatten (Tabelle 2). Dies deutet darauf hin, dass die negativen Folgen eines Fehlers für den Tierarzt oder die Tierärztin selbst gravierender sind, wenn der Patient tatsächlich geschädigt wird. Zudem zeigen die Ergebnisse, dass die negativen Auswirkungen eher im beruflichen als im persönlichen Bereich empfunden werden.

Tabelle 2. Anteil der Tierärzte und Tierärztinnen, die nach Beinahe-Versäumnissen und unerwünschten Ereignissen in ihrem Privat- und Berufsleben beeinträchtigt wurden.

  Kurzfristig (≤ 1 Woche) Längerfristig
Beinahe-Versäumnis Persönliches Leben 64 % 34 %
Berufsleben 68 % 36 %
Unerwünschtes Ereignis Persönliches Leben 78 % 51 %
Berufsleben 84 % 56 %

Reaktion auf unerwünschte Ereignisse in der Praxis

Eine Online-Umfrage untersuchte die Erfahrungen und Reaktionen von Tierärzten und Tierärztinnen in „Kastrationskliniken“ nach schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen, die zu einer unbeabsichtigten Komplikation oder sogar zum Tod von Patienten führten. Alle Befragten empfanden in diesen Situationen eine unmittelbare viszerale Reaktion mit Symptomen von Angst oder Stress, die der Kampf-oder-Flucht-Reaktion des sympathischen Nervensystems entsprachen. Zu den Empfindungen, die von den Befragten in Verbindung mit ihren körperlichen Erfahrungen beschrieben wurden, gehörten Angst, Schuldgefühle, Traurigkeit und Selbstzweifel, aber auch Empathie für die Kunden oder andere von den Ereignissen betroffene Individuen (Abbildung 2). Einige Tierärzte und Tierärztinnen verarbeiteten und überwanden diese negativen Empfindungen innerhalb eines Tages oder einer Woche, während andere noch Monate oder sogar Jahre danach mit tiefer Betroffenheit zu kämpfen hatten. Im Laufe der Zeit führte dies dann zu einem von zwei Langzeit-Outcomes: Die Entscheidung im Job zu bleiben, oder die Entscheidung den Job (oder sogar den Beruf insgesamt) aufzugeben. Was Tierärzte und Tierärztinnen, die in der Lage waren, Resilienz zu zeigen und nach einem unerwünschten Ereignis schneller wieder auf die Beine zu kommen, von denen unterschied, die diese Situation auch weiterhin als immer wiederkehrendes Trauma erlebten, waren in erster Linie die Strategien, die sie zur Bewältigung des Geschehenen einsetzten 8.

Eine Tierärztin fühlt sich schuldig und ist traurig

Abbildung 2. Eine Tierärztin fühlt sich schuldig und ist traurig, wenn sie feststellt, dass sie bei einem Patienten einen Fehler gemacht hat.
© Shutterstock 

Negative und positive Bewältigungsstrategien

Zu den ungesunden Bewältigungsstrategien nach einem Fehler oder einem unerwünschten Ereignis gehören der Konsum von Substanzen (z. B. Arzneimittel, Drogen oder Alkohol), exzessiver Schlaf, Vermeidungsverhalten, Über- oder Unterernährung und ein Rückzug von Freunden, Familie oder regelmäßigen Aktivitäten. In vielen dieser Situationen besteht zudem die Neigung, den Fehler zu verheimlichen oder das unerwünschte Ereignis nicht offenzulegen, weil man sich Sorgen über mögliche persönliche oder berufliche Konsequenzen macht. Da Tierärzte und Tierärztinnen häufig zu Perfektionismus neigen (d. h. zu einer Intoleranz gegenüber Fehlern oder fehlerhaftem Verhalten), wird ein Fehler oder ein unerwünschtes Ereignis häufig von übermäßig kritischen Selbstdialogen und tiefgreifenden Bedenken hinsichtlich der Ansichten oder Meinungen anderer Menschen begleitet. In einer Studie mit Studierenden der Veterinärmedizin wurde festgestellt, dass selbstbezogener und sozial vorgeschriebener Perfektionismus mit einem Neurotizismus zusammenhängt, was wiederum negativ mit der Resilienz korrelierte 9. Die Förderung positiver Bewältigungsstrategien und die Abschwächung perfektionistischer Überzeugungen sind also wichtige Punkte für die Stärkung der eigenen Fähigkeit zur Erholung nach Fehlern.

Zahlreiche positive Strategien können dazu beitragen, die negativen Folgen von klinischen Fehlern und unerwünschten Ereignissen abzumildern. Dazu gehören die Offenlegung, das technisch-fachliche Lernen, Perspektive und Beurteilung, die Unterstützung und Kollegialität sowie das emotionale Lernen in Form von Achtsamkeit, gesundem Streben und Selbstmitgefühl. 

Offenlegung

Untersuchungen zeigen, dass Patienten es vorziehen, zu wissen, wenn ein Fehler gemacht wurde, und zwar auch dann, wenn kein Schaden entstanden ist 10. Eine umfassende Untersuchung über das Thema Offenlegung von Ereignissen im Bereich der Patientensicherheit in der Humanmedizin zeigt, dass auch Angehörige der Gesundheitsberufe das Eingestehen von unerwünschten Ereignissen gegenüber Patienten und ihren Familien unterstützen. Die Studie bestätigt, dass Patienten in der Regel eine aufrichtige und zeitnahe Offenlegung, gegebenenfalls mit Entschuldigung und Zusicherungen für ihre künftige Versorgung wünschen 11. Da Tierhalter und Tierhalterinnen letztlich dieselben Bedürfnisse haben dürften, müssen Tierärzte und Tierärztinnen die Überzeugung haben, dass auch ihre Kunden es verdienen, alle diese Informationen im Falle eines patientenbezogenen Fehlers zu erhalten. Über die formelle Information hinaus kann man sich zudem bei einer Besitzerin entschuldigen und erläutern, was konkret unternommen wird, um zu verhindern, dass derselbe Fehler erneut auftritt (Abbildung 3). Auch das Anbieten einer Übernahme der Kosten für die nach dem Fehler erforderlichen zusätzlichen Behandlungen kann dazu beitragen, die Schuldgefühle innerhalb des Praxisteams zu lindern. Betroffene Tiere können dann alle aufgrund des Fehlers zusätzlich erforderlichen Behandlungen erhalten, die Besorgnis und die Unsicherheit bezüglich unerklärter Probleme wird bei allen Involvierten gemindert, und die Beziehung Tierarzt-Kunde-Patient wird gestärkt. Ziel ist es letztlich, dass alle Beteiligten die Möglichkeit haben, den emotionalen Stress der Situation zu verarbeiten und sich davon zu erholen, so dass die Wahrscheinlichkeit einer Kultur von „Schuld und Scham“ geringer wird. 

Ein Tierarzt entschuldigt sich bei seiner Kundin und teilt ihr mit

Abbildung 3. Ein Tierarzt entschuldigt sich bei seiner Kundin und teilt ihr mit, dass er bei der Behandlung ihres Hundes einen Fehler gemacht hat. 
© Shutterstock 

Technisch-fachliches Lernen

Einer Untersuchung zufolge hatten Tierärzte und Tierärztinnen, die mit einem unerwünschten Ereignis bei einer Kastration konfrontiert waren, seltener langfristige persönliche oder berufliche Konsequenzen zu tragen und konnten eher weiterarbeiten, wenn sie versuchten, herauszufinden, aus welchem Grund der Fehler passiert war 8. Wenn man im Anschluss an einen Fehler offen ist für technisch-fachliches Lernen, kann man nicht nur herausfinden, warum der Fehler passiert ist, sondern auch erkennen, was beim nächsten Mal anders gemacht werden kann, damit dieser Fehler nicht erneut passiert (Abbildung 4). Ist man dagegen nicht in der Lage, zu verstehen, was schief gelaufen ist und wie verhindert werden kann, dass sich dasselbe unerwünschte Ereignis in der Zukunft wiederholt, so führt dies bei allen von diesem Fehler betroffenen Mitgliedern des Praxisteams letztlich zu vermehrter Angst. Der wichtigste Punkt der Aufarbeitung ist jedoch die Verbesserung der Sicherheit in der Praxis insgesamt, indem der Fehler und seine Ursachen erkannt und Schritte eingeleitet werden, um denselben Fehler in Zukunft zu vermeiden. Wenn beispielsweise ein Fehler auftrat, weil ein spezifisches Protokoll nicht vorhanden, mangelhaft oder veraltet war, empfiehlt es sich, ein entsprechendes Protokoll mit zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen neu zu schreiben oder zu aktualisieren, um einen solchen Fehler in Zukunft zu vermeiden.

Wenn ein Fehler gemacht wurde, sollte das Praxisteam den Fall kritisch überprüfen, um festzulegen, welche Schritte im Praxisprotokoll aktualisiert oder geändert werden müssen

Abbildung 4. Wenn ein Fehler gemacht wurde, sollte das Praxisteam den Fall kritisch überprüfen, um festzulegen, welche Schritte im Praxisprotokoll aktualisiert oder geändert werden müssen.
© Shutterstock 

Perspektive und Beurteilung

Hat sich ein Fehler ereignet, ist es für den betroffenen Tierarzt oder die betroffene Tierärztin wichtig, die Situation auch in einem größeren Kontext zu sehen – d. h. man setzt die große Zahl der Tiere, denen täglich geholfen wird in Relation zu den wenigen Tieren, die tatsächlich zu Schaden kommen. Denn auch wenn Fehler passieren, bedeutet dies keineswegs, dass diejenigen, die Fehler machen, „schlechte“ Tierärzte oder Tierärztinnen sind, und während ein Schuldgefühl in solchen Situationen ganz natürlich ist, muss unbedingt darauf geachtet werden, dass dieses Schuldgefühl nicht in ein Schamgefühl übergeht. Ein Schuldgefühl rührt daher, dass man etwas falsch gemacht hat oder eine Erwartung nicht erfüllt hat oder einer Verpflichtung nicht nachgekommen ist, während ein Schamgefühl aus der Sorge resultiert, wie ich als Person auf andere Personen wirken könnte. Scham ist ein sehr schmerzhaftes Gefühl oder die Erfahrung, dass ich als Person mangelhaft bin und damit unwürdig, dazuzugehören. Wenn also ein Tierarzt oder eine Tierärztin einen Fehler macht, ist Scham das Gefühl, dass andere glauben werden, er oder sie verdiene es nicht, als Tierarzt oder Tierärztin zu praktizieren. Mit anderen Worten bedeutet Schuld: „Ich habe einen Fehler gemacht“, während Scham bedeutet: „Ich bin ein schlechter Tierarzt.“ Schuldgefühle sind eine nachvollziehbare Emotion und etwas, das die meisten Menschen nach einem Fehler empfinden dürften. Scham dagegen ist unproduktiv, nicht hilfreich und führt letztlich zu Diskonnektion. Wichtig ist es, Scham und Isolation entgegenzuwirken und zu widerstehen, indem man akzeptiert, dass jeder Mensch auch Fehler macht. Es kann zudem hilfreich sein, das Ausmaß der Situation einzugrenzen, zum Beispiel anzuerkennen, dass ein Patient nicht gestorben ist oder dass andere Patienten nicht beeinträchtigt wurden. Und eine gesunde Perspektive kann auch dadurch eröffnet und gestärkt werden, dass man für sich die Überzeugung beibehält, dass es „im Leben noch mehr gibt als Tiermedizin“. 

Unterstützung und Kollegialität

Soziale Unterstützung und ein Gefühl der Zugehörigkeit sind in stressigen Zeiten besonders wichtig. Insbesondere, wenn man spürt, dass es jemanden gibt, an den man sich in harten Zeiten anlehnen kann, bietet dies Schutz vor Kummer, Leid und Verzweiflung 12. Macht man einen bestimmten Fehler in der Praxis zum ersten Mal, kann es eine unglaubliche Erleichterung sein, zu wissen, dass jemand anderes „dies bereits erlebt hat“. Tierärzte und Tierärztinnen, die mit einem unerwünschten Ereignis konfrontiert werden, sollten wir deshalb ermutigen, sich an Familie, Freunde und Kollegen zu wenden, um fachlichen Rat und psychosoziale Unterstützung zu erhalten (Abbildung 5). Das Teilen der Erfahrung mit einer vertrauten Person oder einer privaten Gruppe in den sozialen Medien ist eine Möglichkeit, Unterstützung zu erhalten und Scham zu mildern. Wichtig ist es aber auch, anderen Teammitgliedern entsprechende positive Unterstützung zu zeigen, denn Menschen, die sich für das Zugeben eines Fehlers eher getadelt als unterstützt fühlen, werden in Zukunft weniger bereit sein, die Wahrheit zu sagen, und werden zudem länger brauchen, um sich davon zu erholen.

Kollegen sollten sich nach einem Fehler in der Praxis gegenseitig unterstützen

Abbildung 5. Kollegen sollten sich nach einem Fehler in der Praxis gegenseitig unterstützen. 
© Shutterstock 

Emotionales Lernen

Die Art und Weise, wie Tierärzte und Tierärztinnen mit einem unerwünschten Ereignis umgehen und wie sie sich selbst unterstützen, ist von größter Bedeutung für ihre Erholung 8. Grübeln oder ständiges Nachdenken über die Situation führt nur zu noch mehr Stressbelastung, insbesondere in Kombination mit Selbstkritik. Selbstzweifel können unter anderem dadurch bekämpft werden, dass man demütig anerkennt, dass praktische Tierärzte und Tierärztinnen jederzeit auch Gefahr laufen, Schaden anzurichten, wenn sie versuchen, Gutes zu tun. Ebenso unvermeidlich sind belastende Emotionen im Anschluss an Fehler und sollten deshalb antizipiert werden. Das sorgfältige Managen solcher Emotionen mit Achtsamkeit, gesundem Streben und Selbstmitgefühl ist eine positive und hilfreiche Bewältigungsstrategie.

Achtsamkeit

Achtsamkeit ist ein mentaler Zustand, der dadurch erreicht wird, dass man seine Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment, also auf das Hier und Jetzt richtet und dabei alle Gefühle, Gedanken oder Körperempfindungen in Ruhe und ohne Bewertung wahrnimmt und akzeptiert. Diese in den letzten zehn Jahren zunehmend wissenschaftlich erforschte Technik ist insbesondere hilfreich für Menschen, die dazu neigen, über Fehler in der Vergangenheit zu grübeln oder sich Sorgen zu machen, wann der nächste Fehler passieren könnte. Die Vorteile sind vielfältig und zahlreich: Achtsamkeitspraxis kann Angst und Depressionen verringern, zur Kontrolle des Konsums von Substanzen beitragen, körperliche Beschwerden im Zusammenhang mit chronischen Schmerzen, Krebs, kardiovaskulären Erkrankungen und rheumatoider Arthritis verbessern, die Immunfunktion stärken und Bluthochdruck kontrollieren 13. Vor allem aber kann Achtsamkeitspraxis die schädlichen Auswirkungen von Stress auf das Gehirn und den Körper verringern. Im Rahmen neuroelektrischer und bildgebender Untersuchungen (z. B. funktionelle MRT) wurden bei Menschen, die Achtsamkeitsübungen durchführten, Veränderungen von Hirnschaltkreisen und komplexer Hirnfunktionen nachgewiesen, wobei unter anderem kortikale Strukturen modifiziert wurden, die mit Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Exekutivfunktionen und Affektregulierung in Verbindung stehen. Diese Untersuchungen zeigen also, dass Achtsamkeitspraxis die Aufmerksamkeitsregulation und die emotionale Selbstregulation sowie die Verhaltensflexibilität fördert. Bei Menschen, die Achtsamkeit praktizieren, wurden darüber hinaus auch Veränderungen im limbischen System festgestellt, das für die Kontrolle von Emotionen, Verhalten und Motivationen sowie für das Langzeitgedächtnis zuständig ist 14.

Marie K. Holowaychuk

Nach einem Fehler ist es für den betroffenen Tierarzt wichtig, die Situation in einem größeren Kontext zu sehen – dass heißt, man setzt die große Zahl der Tiere, denen geholfen wird, in Relation zu den wenigen Tieren, die zu Schaden kommen.

Marie K. Holowaychuk

Untersuchungen zum möglichen Nutzen von Achtsamkeitspraktiken bei Beschäftigten im Gesundheitswesen zeigen zahlreiche signifikante Vorteile. So unterstützt Achtsamkeitstraining Krankenschwestern und Krankenpfleger beim effektiven Umgang mit Stress, indem es ihre Fähigkeit verbessert, in stressigen Situationen konzentriert und ruhig zu bleiben 15. Darüber hinaus zeigen Krankenschwestern und Krankenpfleger nach Absolvierung eines Achtsamkeitstrainings verbesserte klinische Leistungen, eine verbesserte Fähigkeit, mit negativen Emotionen umzugehen, eine verbesserte Wahrnehmung von Gedanken und Gefühlen während stressiger Ereignisse sowie eine verbesserte Fähigkeit, auf die Bedürfnisse der Patienten einzugehen 16. Zudem zeigen Studierende der Medizin, Ärzte und Ärztinnen sowie Krankenschwestern und Krankenpfleger nach Achtsamkeitstraining eine verbesserte Selbstwahrnehmung und Selbstfürsorge sowie ein geringeres Risiko für berufliche Burnouts 17. Darüber hinaus hat eine Praxis der Achtsamkeit auch das Potenzial, das Auftreten unerwünschter Ereignisse bei Beschäftigten im Gesundheitswesen zu reduzieren. So verglich eine jüngste Studie in China eine Kohorte von Ärzten und Ärztinnen, die randomisiert entweder einer Meditationsgruppe oder einer Kontrollgruppe zugeteilt wurden. Achtsamkeit, eine Kultur der Patientensicherheit und die Patientensicherheitskompetenz waren bei den Ärzten und Ärztinnen, die an der achtwöchigen Achtsamkeitsmeditation teilgenommen hatten, signifikant stärker ausgeprägt als in der Kontrollgruppe, während die Häufigkeit unerwünschter Ereignisse in dieser Meditationsgruppe signifikant geringer war 18. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Achtsamkeit nach einem Fehler nicht nur Stress mindern und die Selbstfürsorge sowie positive Bewältigungsstrategien verbessern kann, sondern darüber hinaus auch das Potenzial hat, die Häufigkeit des Auftretens unerwünschter Ereignisse insgesamt zu verringern.

Ähnliche Ergebnisse findet man auch in der veterinärmedizinischen Fachliteratur, und entsprechende Untersuchungen deuten darauf hin, dass Achtsamkeitspraktiken auch in diesem Berufsfeld von Vorteil sein können. So reduzierte beispielsweise ein Achtsamkeitstrainingsprogramm den Stress von Fakultätsmitarbeitern an einer tierärztlichen Hochschule in der Karibik 19. Auch eine Studie, in der die Kortisol- und α-Amylase-Konzentrationen im Speichel sowie der Stress von Studierenden der Tiermedizin im vierten Studienjahr untersucht wurden, die eine Operation an einem lebenden Tier durchführten, ergab, dass Probanden und Probandinnen, die vor dem Eingriff eine fünfminütige Achtsamkeits-Atemübung durchführten, eine niedrigere α-Amylase-Konzentration aufwiesen und einen besseren Zugang zu Entspannung und Gelassenheit hatten 20. Tierärzte und Tierärztinnen sollten daher ermutigt werden, regelmäßig formelle Achtsamkeitsübungen durchzuführen, wie zum Beispiel Atemübungen, Bodyscans, Yoga oder Meditation (Box 1), um ihre Fähigkeit zu verbessern, auch nach Fehlern oder unerwünschten Ereignissen geistesgegenwärtig zu bleiben und ihre mentale Gesundheit zu verbessern. Informelle Achtsamkeitsübungen können zum Beispiel auch in den Arbeitsalltag integriert werden, sei es zwischen einzelnen Terminen, in Pausen oder beim Pendeln von und zur Praxis. In all diesen Momenten, vor allem wenn der Verstand rast oder grübelt, kann es hilfreich sein, die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment, also auf das Hier und Jetzt zu fokussieren, indem man sich auf seine Atmung konzentriert oder die körperlichen Empfindungen im eigenen Körper wahrnimmt. Die 5-4-3-2-1-Übung (Box 2) ist eine weitere praktische Möglichkeit, um eine Stressreaktion zu verringern und sich bewusst auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

Box 1. Beispiele für Apps für den Start in die Praxis der Meditation. 

  • Buddhify – Achtsamkeitsmeditation 
  • Calm – Schlafen, Meditieren, Entspannen
  • Headspace: Meditation & Schlaf 
  • Insight Timer – Meditation
  • Mindfullness.com – Meditation 
  • The Mindfulness-App 

Box 2. Die 5-4-3-2-1-Übung als informelles Achtsamkeitstraining.

  • Wenn der Verstand rast oder grübelt, versuchen Sie sich vollständig auf das Hier und Jetzt zu fokussieren.
  • Zählen Sie 5 Dinge auf, die Sie gerade sehen können. 
  • Zählen Sie 4 Dinge auf, die Sie gerade hören können.
  • Zählen Sie 3 Dinge auf, die Sie gerade spüren können. 
  • Zählen Sie 2 Dinge auf, die Sie gerade riechen können. 
  • Nennen Sie 1 Ding, das Sie gerade schmecken können.
  • Nehmen Sie Ihren mentalen Zustand bewusst wahr, nachdem Sie Ihre Sinne nun neu justiert und sich vollständig auf das Hier und Jetzt fokussiert haben.  

Gesundes Streben

Es ist unrealistisch, zu erwarten, dass Tierärzte und Tierärztinnen ihre berufliche Karriere gänzlich ohne Fehler durchlaufen werden. Natürlich ist es nicht so, dass Tierärzte einem Tier absichtlich schaden, oder nicht vorsichtig genug sind. Vielmehr handelt es sich um Menschen, die somit auch unvollkommen sind. Viele Tierärzte und Tierärztinnen erwarten aber von sich selbst, perfekt zu sein, und diese Anspruchshaltung gegenüber sich selbst führt zwangsläufig zu psychischem Stress, insbesondere dann, wenn Fehler gemacht werden. Ein gesundes Streben nach bestmöglicher medizinischer Versorgung auf der Grundlage der jetzt und hier vorhandenen Ressourcen und der zur Verfügung stehenden Zeit ist ein sehr viel produktiverer und deutlich weniger destruktiver Ansatz für die tägliche klinische Praxis. Eine Untersuchung zum Perfektionismus bei im Gesundheitswesen tätigen Menschen während der COVID-Pandemie zeigt, dass die belastenden Erfahrungen der globalen Gesundheitskrise durch den ohnehin schon hohen Leistungs- und Leidensdruck gerade unter den Perfektionisten noch zusätzlich verstärkt wurden 21. Die Autoren dieser Studie plädieren dafür, anstatt nach Perfektion zu streben eher nach Exzellenz zu trachten, um zu erkennen, wann „gut genug“ tatsächlich „gut genug“ ist, und um zu lernen, arbeitsbezogene Unzufriedenheit nicht in einem so hohen Maße zu verinnerlichen, dass sie zur allgemeinen Unzufriedenheit mit sich selbst wird. Um realistische Erwartungen zu haben und Stress zu vermeiden, ist für Tierärzte und Tierärztinnen ganz entscheidend, zu akzeptieren, dass manchmal eine „ausreichend gute Praxis“ besser ist als eine „perfekte Praxis“.

Marie K. Holowaychuk

Da Tierärzte und Tierärztinnen häufig zu Perfektionismus neigen (d. h., zu Intoleranz gegenüber eigenen Fehlern oder fehlerhaftem Verhalten), wird ein Fehler oder ein unerwünschtes Ereignis häufig begleitet von übermäßig kritischen Selbstgesprächen und tiefgreifenden Bedenken hinsichtlich der Meinungen anderer Menschen.

Marie K. Holowaychuk

Selbstmitgefühl 

Es ist normal, dass nach einem Fehler belastende Emotionen auftreten, es ist aber wichtig, diese negativen Emotionen mit Hilfe von Vergebung und Selbstmitgefühl zu verarbeiten und zu bewältigen, das heißt, mit einem nach innen gerichteten Mitgefühl. Eine Studie, die anhand einer Online-Umfrage Aspekte wie Selbstmitgefühl und Resilienz unter australischen Studierenden der Tiermedizin untersuchte, ergab, dass Individuen mit höheren Selbstmitgefühl-Scores tatsächlich auch höhere Resilienz-Scores aufwiesen 22. Und auch in der humanmedizinischen Akutversorgung tätige Krankenschwestern mit höheren Selbstmitgefühl-Scores zeigen niedrigere Scores für sekundären traumatischen Stress, der als ein Maß für Mitgefühlserschöpfung herangezogen werden kann 23. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Kultivierung von Selbstmitgefühl die Erholungsfähigkeit eines Tierarztes oder einer Tierärztin im Anschluss an einen Fehler oder ein anderes, ähnlich belastendes Ereignis verbessern kann. Zusätzlich untermauert wird dies durch eine jüngste Untersuchung, in der festgestellt wurde, dass bei im Gesundheitswesen tätigen Menschen ein entsprechendes Training dazu beitragen kann, Selbstmitgefühl zu kultivieren, was dann wiederum die Selbstfürsorge fördert und die selbstkritische Beurteilung mindert 24. Selbstmitgefühl besteht aus drei Schlüsselkomponenten: Selbstliebe, Achtsamkeit und Anerkennung von verbindender Menschlichkeit (Box 3). Selbstmitgefühl kann durch eine Vielzahl von Übungen kultiviert werden, z. B. durch Selbstmitgefühlsmeditation, eine Selbstmitgefühlspause oder das Führen eines Selbstmitgefühlstagebuchs (Tabelle 3).

Box 3. Definition der drei Komponenten des Selbstmitgefühls. *

Selbstliebe   Sich selbst zu behandeln, als wäre man ein enger Freund, der eine schwierige Zeit durchmacht. 
Achtsamkeit Offen und bewusst für sein Leiden sein, ohne sich darin zu verfangen oder von negativen Reaktionen und Geschichten erfassen zu lassen.  
Anerkennung der verbindenden Menschlichkeit Akzeptieren, dass jeder Mensch unvollkommen und fehlerhaft ist und Fehler machen oder Schwierigkeiten erleiden wird.

(* Aus Self-Compassion von Dr. Kristin Neff: siehe https://self-compassion.org/)

Tabelle 3. Schritte für ein Selbstmitgefühlstagebuch mit Beispielen.

Schritt Erläuterung Beispiel
Reflexion Denken Sie über den Fehler nach und schreiben Sie alles auf, was Sie als schlecht empfinden oder wofür Sie sich selbst verurteilen.  Ich habe mich bei einer intravenösen Dauertropfinfusion für einen meiner Patienten verrechnet. Er wurde übermäßig sediert, entwickelte Übelkeit und er musste einen zusätzlichen Tag hospitalisiert bleiben. Ich hätte meine Berechnungen doppelt überprüfen und früher eingreifen sollen, als sich das Verhalten des Hundes änderte.  
Achtsamkeit Machen Sie sich die schmerzhaften Gefühle bewusst, die Sie empfinden, und schreiben Sie diese auf. Ich fühle mich schuldig und schäme mich. Mein Magen und mein Kopf schmerzen, wenn ich daran denke, was passiert ist. 
Verbindende Menschlichkeit  Schreiben Sie auf, wie dieser Fehler mit dem erweiterten Begriff des Menschseins zusammenhängt.   Jeder macht Fehler, vor allem, wenn man erschöpft oder stark beschäftigt ist. 
Selbstliebe Schreiben Sie einige freundliche und verständnisvolle Worte des Trostes. Es ist verständlich, dass dies passiert ist. Ich habe an einem Tag mit personeller Unterbesetzung und in großer Eile mein Bestes gegeben. Das nächste Mal werde ich mir sicher mehr Zeit nehmen und meine Dosierungsberechnungen noch doppelt überprüfen. 

Schlussfolgerung

Fehler sind in der tierärztlichen Praxis keine Seltenheit und können Tierärzten und Tierärztinnen während ihrer gesamten beruflichen Karriere widerfahren und beeinträchtigen. Die Folgen von Fehlern können verheerend sein und zu langfristigen persönlichen und beruflichen Konsequenzen bis hin zur Aufgabe des Berufs führen. Nach einem Fehler ist die Stärkung der Resilienz mit Hilfe gesunder Bewältigungsstrategien von entscheidender Bedeutung. Dazu gehören die Offenlegung des Fehlers gegenüber der Familie des Tieres, die Aufdeckung technisch-fachlicher Aspekte, die diesen Fehler in Zukunft verhindern wird, die Erweiterung der Perspektive hinsichtlich der Auswirkungen des Fehlers, die Unterstützung durch andere Personen und emotionales Lernen in Form von Achtsamkeit, gesundem Streben und Selbstmitgefühl.

Literatur

  1. Vande Griek, Clark MA, Witte TK, et al. Development of a taxonomy of practice-related stressors experienced by veterinarians in the United States. J. Am. Vet. Med. Assoc. 2018;252:227-233. 

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Marie K. Holowaychuk

Marie K. Holowaychuk

Dr. Holowaychuk ist Fachtierärztin für Small Animal Emergency and Critical Care und eine leidenschaftliche Kämpferin für das Wohlbefinden von Tierärzten und Tierärztinnen Mehr lesen

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