Diagnose
Sichere Frakturzeichen sind die abnorme Beweglichkeit eines Kieferanteils, zeigt sich zusätzlich Krepitation ist definitiv von einer Fraktur auszugehen. Symmetrieabweichungen wie Schwellungen, Enophthalmus, Exophthalmus oder laterale sowie rostrokaudale Abweichungen im Kieferschluss sind allein unsichere Frakturzeichen. Ein inhibierter Kieferschluss mit unnatürlicher Bewegungsamplitude des Unterkiefers kann z.B. auch Folge einer Kiefergelenksluxation sein.
Objektiviert wird das Vorliegen einer Kieferfraktur durch Röntgenaufnahmen in mehreren Ebenen mit dorsoventralem oder ventrodorsalem, sowie laterolateralem Strahlengang, ergänzt durch Schrägprojektionen zur Eliminierung von Superposition einzelner Strukturen. Bei Impressionsfrakturen des Oberkiefers oder bei kaudalen Unterkieferfrakturen ist eine Darstellung im Schnittbildverfahren kombiniert mit einer daraus errechneten dreidimensionalen Darstellung (CT, MRT) häufig aussagekräftiger. In zahntragenden Kieferabschnitten ist mit detailgenauen intraoralen Einzelzahnröntgenaufnahmen eine feinzeichnende und aussagekräftige Darstellung des Frakturbereichs möglich.
Kombiniert mit einer Kieferfraktur finden sich häufig Weichteilverletzungen mit Blutungen in der Mundhöhle, vermehrtes Speicheln, traumatisch bedingte Zahnfehlstellungen oder -luxationen, alles eingebunden in ein schmerzhaftes, entzündliches Geschehen, welches die Untersuchung nicht erleichtert. Abweichungen im Kieferschluss infolge von Störkontakten in der engen Verzahnung der Katze sollten immer auf eine potentielle Kieferfraktur abgeklärt werden.
Oberkieferfrakturen
Der Oberkiefer setzt sich zusammen aus dem paarigen Os maxillae, Os incisivum und Os palatinum. Linke und rechte Seite vereinen sich mittig in der Sutura palatina mediana. An großen versorgenden Gefäßen findet sich im Oberkiefer die A. infraorbitalis, und die A. palatina major. Über das Foramen maxillare in der Fossa pterygopalatina tritt die A. infraorbitalis kaudal in den Canalis infraorbitalis ein, am Foramen infraorbitale verlässt sie die Maxilla wieder. Die A. palatina major tritt am Foramen palatinum majus auf die mundhöhlenseitige Fläche des Gaumens und verläuft im Sulcus palatinus mittig auf jeder Seite nach rostral.
Bei Frakturen der Maxilla sind Dislokationen der Frakturenden in der Regel nicht ausgeprägt. Am häufigsten kommt es zur Sprengung im Bereich der Sutura palatina mediana. Dabei kann es zu einem vertikalen wie horizontalen Versatz der Frakturseiten gegeneinander kommen mit Störung der Okklusion. Meist zerreißt zusätzlich Gaumen- wie Nasenschleimhaut, so dass eine traumatisch bedingte Gaumenspalte entsteht, welche die Gefahr der Aspiration von Futter oder Fremdkörpern birgt. Ein Reponieren der Frakturenden ist aufgrund der Masse der beteiligten Strukturen im Bereich des Gesichtsschädels nicht immer möglich. Gelingt sie, ist eine Stabilisierung der reponierten Situation über eine DrahtKunststoffschienung eine geeignete Vorgehensweise. Dabei werden Cerclagedrähte um die Zähne geführt, verdrillt und in Kunststoff eingebettet, welcher mittels Anätztechnik mit Phosphorsäure an den Zähnen befestigt wird. In vielen Fällen ist auch eine alleinige Stabilisierung über Kunststoff möglich. Cerclagedraht ist immer dann von Nöten, wenn für das Aufbringen des Kunststoffes die reponierte Situation gesichert werden muss.
Ist ein Reponieren im Bereich der Sutura palatina mediana nicht möglich, ist die weichgewebliche Deckung der traumatischen Gaumenspalte angezeigt. Bei weitem Klaffen der Spalte werden zwei Schleimhautplastiken bevorzugt zur Deckung angewandt, die Brückenlappenplastik und die Umschlaglappenplastik.
- Brückenlappenplastik: Nach Auffrischung der medialen Wundränder wird ein Paramarginalschnitt wenige Millimeter palatinal der Backenzähne durchgeführt. Der gesamte Gaumenfaltenbereich zwischen Gaumenspalte und Paramarginalschnitt wird samt A. palatina unterminiert und bleibt lediglich rostral und kaudal mit der Gaumenschleimhaut verbunden. Um einen mehrschichtigen, und damit sichereren Verschluss zu erzielen, wird die Schleimhaut des Nasenbodens nach Mobilisierung miteinander vernäht. Zusätzlich kann unter der Gaumenschleimhaut eine resorbierbare Membran eingebracht werden, die die Heilung unterstützen soll. Anschließend werden die „Brückenlappen“ der Gaumenschleimhaut nach medial verschoben und mit Einzelheften vernäht.
- Umschlaglappenplastik: Vorrangiges Ziel der Umschlaglappenplastik ist die Verlagerung des Nahtbereichs in eine knochenunterstützte Zone. Auf einer Seite der Gaumenspalte wird mittels Paramarginalschnitt ein Umschlaglappen präpariert unter Schonung der A. palatina, der Rand der Gaumenspalte bleibt unberührt. Der Lappen wird umgeschlagen und unter die gaumenspaltenseitig unterminierte Schleimhaut gezogen und mittels Nähten fixiert. Problematisch bei dieser Form des Verschlusses bei der Katze ist die Mobilisierung der A. palatina, welche für die vaskuläre Versorgung des Umschlaglappens essentiell ist. Bei Verletzung oder Abriss der Arterie muss mit der Nekrose des Schleimhautlappens gerechnet werden. Weiterhin kann durch die Zerreißung der Schleimhaut im Bereich der traumatischen Gaumenspalte nach Umklappen per se eine Undichtigkeit vorliegen, so dass die Gefahr einer bleibenden Fistelung besteht.
.
Ausbruchsfrakturen des Oberkiefers finden sich häufig unter Mitbeteiligung des Oberkiefercaninus, welcher aufgrund seiner exponierten Lage und seiner Länge prädisponiert ist. Es kommt zu einer lateralen Luxation des Zahnes aus seiner Alveole mitsamt der bukkalen Knochenbedeckung. Bei zeitiger Behandlung ist zumeist ein Reponieren möglich, welches dann mittels einer Kunststoffschienung stabilisiert werden kann. Nach Ausheilung sollte die Vitalität des betroffenen Zahnes mittels Röntgenaufnahmen kontrolliert werden (Pulpaweite, periapikales Geschehen), um gegebenenfalls eine endodontische Behandlung einleiten zu können.
Bei multiplen Frakturen im Oberkieferbereich mit Dislokation der Frakturfragmente bietet sich der Einsatz von Miniplatten an, um eine Rekonstruktion des Oberkiefers unter maximaler Schonung der Zahnwurzeln zu erzielen.
Unterkieferfrakturen
TDer Unterkiefer besteht aus rechter und linker Mandibula, die im Bereich der Unterkiefersymphyse syndesmotisch oder synchondrotisch miteinander verbunden sind. Die Entwicklung einer Synostose ist im Laufe des Katzenlebens zwar möglich, in der Regel bleibt jedoch eine limitiert bewegliche Verbindung der linken und rechten Unterkieferhälfte. Man unterscheidet das Corpus mandibulae (horizontaler Unterkieferast) vom Ramus mandibulae (vertikaler Unterkieferast). Die Zähne befinden sich in der Pars alveolaris des Corpus. Zentrale Gefäße und Nerven erreichen den Unterkiefer mit Eintritt am Foramen mandibulare an der Innenseite des Ramus mandibulae, verlaufen dann im Canalis mandibularis parallel zum Ventralrand des Unterkiefers nach rostral, Anteile treten an den Foramina mentalia im Bereich des dritten Unterkieferprämolaren wieder aus. Der Unterkiefer ist über das Kiefergelenk mit der Schädelbasis im Bereich des Os temporale verbunden. Die Katze besitzt eine sehr tiefe Fossa mit ausgeprägter kaudaler und rostraler Begrenzung, dem Processus retroarticularis und Processus anteglenoidalis. Das Kiefergelenk ist ein inkongruentes Walzengelenk, welches durch einen Diskus vollständig in eine obere und untere Etage getrennt wird. Die Freiheitsgrade des Kiefergelenks der Katze sind aufgrund der engen Einfassung fast ausschließlich auf eine Scharnierbewegung begrenzt, welche in der schneidenden Funktion der rein sekodonten Dentition der Katze ihre Entsprechung findet. Durch die Anisognathie in Form eines im Vergleich zum Oberkiefer schmaleren, lingual stehenden Unterkieferzahnbogens ist die sekodonte Funktion komplettiert.
An der lateralen und medialen Fläche des Ramus mandibulae setzen mit dem M. masseter, M. pterygoideus medialis und M. temporalis achsennah die großen Schließer der Kaumuskulatur mit einer rostrodorsal ausgerichteten Zugrichtung an. Achsenfern, rostral am Unterkieferkörper, unterstützen vor allem der kaudoventrale Zug des M. digastricus und die Unterzungenmuskulatur die Öffnungsbewegung des Kiefers. Entsprechend der funktionellen Beanspruchung weist der Unterkiefer belastungsbedingte Anpassungen in Form eines Trajektoriensystems mit Ausrichtung von Spongiosabälkchen sowie der Dicke der Kortikalis auf.
Je nach Verlauf einer Frakturlinie kann somit eine „günstige“ oder „ungünstige“ Voraussetzung zur Versorgung der Fraktur vorliegen. Der Ventralrand des Unterkiefers ist auf Druckbelastung, der Alveolarkammanteil auf Zugbelastung ausgerichtet, so dass für die Reparatur der Fraktur eine Technik zur Neutralisierung der Zugkräfte auf der ventralen Seite oder eine Zuggurtung auf der dorsalen Seite eingesetzt werden kann, oder beide Verfahren kombiniert. Für eine gute Funktionalität ist die Wiederherstellung des Trajektoriensystems notwendig. Das Vorhandensein der Zähne auf Seiten der Zugbelastung im Frakturbereich ist sehr hinderlich für eine konventionelle invasive Frakturversorgung, dadurch ist insbesondere im zahntragenden Abschnitt des Unterkieferkörpers eine Modifikation der Versorgung anzustreben.
Für Ober- wie für Unterkieferfrakturen gilt, dass eine gute Einstellung der Verzahnung nach Reponieren der Fraktur nur dann gewährleistet ist, wenn die Kontrolle des Kieferschlusses möglich ist. Neben der passageren Extubation zur Kontrolle kommt alternativ die Intubation mittels Pharyngostomie in Betracht, welche während der gesamten Zeit der operativen Versorgung eine fortwährende Kontrolle gewährleistet sowie bei der Verblockung von Ober- und Unterkiefer bei kaudalen Frakturen eine Fixierung im Schlussbiss erlaubt.
Frakturen der Unterkiefersymphyse
Da in der Regel die Unterkiefersymphyse keinen knöchernen Durchbau zeigt, stellt sie bei Unfällen genau genommen eine präformierte Bruchstelle dar, häufig kommt es zu einer „Sprengung“ oder „Separation“ dieser Verbindung. Insbesondere bei Stürzen aus großer Höhe (High rise syndrome) kommt es bei der Katze häufig zu Verletzungen der Unterkieferfront, da die Katze durch geschickte Drehung in der Luft es zwar schafft, mit allen vier Gliedmaßen aufzukommen und sich abzufangen, allerdings schlägt infolgedessen der Kopf mit dem Unterkiefer voran auf den Boden, welches in den meisten Fällen zu einer Separation von linkem und rechtem Unterkieferast führt. Klinisch wie röntgenologisch zeigt sich infolge Muskelzugs eine Verschiebung der Unterkieferäste gegeneinander, dieses ist sowohl vertikal wie horizontal möglich. Die Standardversorgung einer Unterkiefersymphysenseparation ist das Anlegen einer circummandibulären Draht-cerclage kaudal der Unterkiefercanini (Abbildung 2). Bei intraoraler Lage der Verdrillung wird der Draht rostral des seitlichen Lippenbändchens unter Zuhilfenahme einer Kanüle subkutan um die Unterkieferfront geführt. Bei seitlichem Anlegen der Verdrillung kann es zu Störkontakten mit dem Oberkiefercaninus kommen, daher kann die Verdrillung auch lingual der Incisivi gelegt und dort in der Schleimhaut versenkt werden. Bei extraoralem Anlegen der Verdrillung wird der Draht über eine Kanüle nach einem kleinen Hautschnitt ventral der Unterkieferfront eingestochen und rostral des seitlichen Lippenbändchens herausgeführt, dann kontralateral rostral des Lippenbändchens wiederum über eine Kanüle eingestochen und zum Ende des Drahtes am Hautschnitt geführt, dort verdrillt und subkutan versenkt. Die verwendete Drahtstärke variiert je nach Größe der Katze zwischen 0,3 und 1mm Durchmesser.
Bei Anziehen der circummandibulären Drahtcerclage muss darauf geachtet werden, dass es nicht zu einer Konvergenz der Unterkiefercaninikronen kommt, welches konsekutiv zu Störkontakten in der Okklusion führt und gegebenenfalls sogar den Kieferschluss inhibieren kann. Zur Vermeidung des Einwärtskippens kann gegebenenfalls eine Kompositbrücke zwischen den Unterkiefercanini mittels Anätztechnik befestigt werden. Die Versorgung einer Unterkiefersymphysenfraktur mittels Knochenschraube oder transversalem Pin ist aufgrund der Schädigung der Caniniwurzeln obsolet.