Eine Gingivitis, selbst wenn sie unbehandelt bleibt, führt nicht in jedem Fall zur Entstehung einer Parodontitis. In der Tat wird die Entwicklung der parodontalen Erkrankung in erster Linie durch ein Ungleichgewicht zwischen der bakteriellen Population und dem Immunsystem des Wirts bestimmt. Faktoren, die das Fortschreiten einer parodontalen Erkrankung unterstützen oder hemmen sind die Immunkapazität des Wirts, Stress, das Alter, der Ernährungs- und Stoffwechselstatus, die Rassezugehörigkeit und endokrine Erkrankungen. Schreitet die Erkrankung weiter fort, rufen die Zerstörung des Knochengewebes und die apikale Migration des stützenden Bindegewebes eine Lockerung des Zahnes hervor, die bis hin zum Verlust eines oder mehrerer Zähne reicht.
Bei der parodontalen Erkrankung handelt es sich um eine fokale Infektion. Diesem bereits vor mehr als einem Jahrhundert eingeführten Konzept zufolge handelt es sich um eine lokal begrenzte, chronische Erkrankung, die eine Quelle für Mikroorganismen, Toxine und Abbauprodukte von Bakterien und Gewebe darstellt, welche über den Blutkreislauf auch in weiter entfernt liegende Organe und Gewebe gelangen können 3. Bei erkrankten Toy-Rassen hat man die von der Parodontitis betroffene Oberfläche gemessen und herausgefunden, dass diese zwischen 3,18 und 29,8 cm2 liegt 4. Die Fläche des erkrankten Gewebes kann also einen nicht unbeträchtlichen Anteil der Gesamtkörperoberfläche des Hundes einnehmen.
Im Laufe der Entwicklung einer Parodontitis können die in den Parodontaltaschen siedelnden Bakterien in den Blutkreislauf gelangen und eine Bakteriämie hervorrufen. Bei gesunden Individuen wird diese Bakteriämie in aller Regel zwar mit Hilfe des retikulohistiozytären Systems gestoppt 5, eine fortgesetzte und dauerhafte bakterielle Exposition kann jedoch zur Entstehung systemischer Erkrankungen unter Einbeziehung weiter entfernt liegender Organe und Organsysteme führen 6 7. Die systemischen Auswirkungen einer parodontalen Erkrankung beschränken sich jedoch keineswegs nur auf die Folgen der bakteriellen Belastung. Chemische Entzündungsmediatoren, bakterielle Endotoxine und Toxine aus dem Gewebeabbau können ebenfalls an den Folgen beteiligt sein, entweder über direkte schädliche Wirkungen oder aber durch das Hervorrufen von Immunreaktionen in weiter entfernt von der Maulhöhle gelegenen Organen.
Auswirkungen auf das Herz-/Kreislaufsystem
In der Humanmedizin gibt es mehr als 50 veröffentlichte Studien, die die Zusammenhänge zwischen parodontaler Erkrankung und kardiovaskulären Erkrankungen beleuchten. Die meisten dieser Studien stimmen darin überein, dass es eine direkte Korrelation zwischen diesen beiden Entitäten gibt. So wurden zum Beispiel Bestandteile paradontopathischer Bakterien in atherosklerotischen Plaques gefunden 8, und auch zwei neuere Meta-Analysen kommen zu dem Ergebnis, dass es eine signifikante Korrelation zwischen der parodontalen Erkrankung und kardiovaskulären Erkrankungen gibt 9 10.
Dies trifft auch auf die Veterinärmedizin zu, wo verschiedene Studien ebenfalls eine positive Korrelation zwischen dem Vorhandensein parodontaler Erkrankungen und histopathologischen Veränderungen im Herzen und anderen inneren Organen zeigen 4 5 6 711 12 13 Dennoch herrscht in der internationalen wissenschaftlichen Meinung keine Übereinstimmung bezüglich der tatsächlichen Bedeutung oraler Infektionen bei der Entstehung systemischer Erkrankungen. Dies dürfte vor allem daran liegen, dass es gegenwärtig immer noch keine schlüssigen Evidenzen einer direkten Verbindung zwischen der parodontalen Erkrankung und anderen Erkrankungen gibt 14.
Reproduktionsstörungen
Nachgewiesen ist, dass schwangere Frauen mit Parodontitis ein um bis zu 7,5fach höheres Frühgeburtsrisiko haben, und dass Babys betroffener Mütter ein niedriges Geburtsgewicht aufweisen. Dieser Befund korreliert mit der durch zirkulierende bakterielle Lipoproteine hervorgerufenen Erhöhung proinflammatorischer Zytokine. In einigen Fällen konnten parodontopathische Bakterien auch direkt in der Amnionflüssigkeit nachgewiesen werden 15.
Diabetes mellitus
Hohe zirkulatorische Konzentrationen chemischer Entzündungsmediatoren, wie zum Beispiel Interleukin 6 (IL6), Tumornekrosefaktor (TNF) und C-reaktives Protein (CRP) können die Insulinresistenz erhöhen und somit eine wirksame Kontrolle des Blutzuckerspiegels bei diabetischen Patienten verhindern. Ein Bericht stellt fest, dass die Behandlung einer parodontalen Infektion bei einem diabetischen Hund in der Folge die Kontrolle des Blutzuckerspiegels mit einer Insulinbehandlung ermöglichte
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Lebererkrankungen
Beschrieben wird ein Zusammenhang von Lebererkrankungen wie Leberdegeneration, Steatose und intrahepatischen Abszessen mit Parodontitis bei Menschen und bei Hunden
7. Eine neuere Veröffentlichung stellt fest, dass sich die Ergebnisse von Leberfunktionstests bei Menschen nach parodontaler Behandlung verbesserten, und berichtet, dass eine Infektion mit dem Bakterium Porphyromonas gingivalis ein Risikofaktor für die Entwicklung und das Fortschreiten der hepatischen Steatose und der Steatohepatitis sein kann
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Ätiopathogenetische Hypothesen
In Anbetracht der Tatsache, dass ein klarer Nachweis von Mechanismen, die orale und systemische Erkrankungen eindeutig miteinander verbinden, sehr schwierig ist, wurden verschiedene Hypothesen zur Erklärung dieses Zusammenhangs entwickelt, namentlich die Hypothese der direkten Infektion, die Hypothese der systemischen Entzündung mit endothelialen Schäden und die Hypothese der molekularen Mimikry zwischen bakteriellen Antigenen und Autoantigenen.
Die Hypothese der direkten Infektion
Bakterien wie
Streptococcus spp.,
Staphylococcus spp. und
P. gingivalis sowie deren Nebenprodukte können die Gefäßbarriere überschreiten und auf diesem Weg in den systemischen Kreislauf eindringen. Eine transiente Bakteriämie wird nach dem Kauen und nach dem Zähneputzen sowie während der Zahnprophylaxe und dentalen chirurgischen Eingriffen beobachtet. Bei gesunden Individuen ist diese Bakteriämie in der Regel jedoch nur von geringer oder gar keiner klinischen Relevanz. Im Experiment konnte aber gezeigt werden, dass eine Bakteriämie mit
P. gingivalis bei entsprechend empfänglichen Schweinen und Mäusen eine Atherosklerose induziert. Mehrere parodontopathogene Erreger konnten schließlich entweder direkt oder mittels PCR in weit von der Maulhöhle entfernt gelegenen Organen und Geweben isoliert bzw. nachgewiesen werden. Eine neuere Studie zeigt darüber hinaus, dass
P. gingivalis bei Menschen in 100% aller untersuchten Fälle von atherosklerotischen Plaques vorhanden waren
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Die Hypothese der systemischen Entzündung
Dieser Hypothese zufolge verursacht eine Parodontitis eine Erhöhung zirkulierender Zytokine, die das Endothel von Blutgefäßen direkt schädigen können und auf diesem Weg zur Entstehung von Läsionen im Herzen und anderen inneren Organen führen. In diesem Zusammenhang konnte gezeigt werden, dass proinflammatorische Zytokine wie TNF und IL6 durch eine Aktivierung intrazellulärer Signale anabole Mutationen in Myozyten hervorrufen können, die schließlich zu myokardialer Hypertrophie führen 20. In mehreren Studien wurden bei Patienten mit chronischer Parodontitis hohe Konzentrationen an C-reaktivem Protein (CRP) beobachtet 21, und eine neuere Studie 22 zeigt, dass Menschen, die einer intensiven parodontalen Behandlung unterzogen wurden (Scaling und Root Planing) im Vergleich zu einer Kontrollgruppe 24 Stunden nach der Therapie eine signifikant herabgesetzte Elastizität der Arteria brachialis aufwiesen. Zurückgeführt wurde dieser Elastizitätsverlust auf den Anstieg von CRP und IL6 im Verlauf der parodontalen Therapie. Sechzig und 180 Tage nach der Zahnbehandlung war die Gefäßelastizität in der Gruppe mit parodontaler Therapie allerdings signifikant höher als in der unbehandelten Kontrollgruppe. Dieser Anstieg der Elastizität wurde auf die vorteilhaften Effekte der parodontalen Behandlung zurückgeführt.
Die Hypothese der molekularen Kreuzreaktivität
Der Hypothese der molekularen Kreuzreaktivität zufolge ist die Entwicklung systemischer Erkrankungen die Folge einer durch bakterielle Hitzeschockproteine (Heat Shock Proteins, HSPs) induzierten Immunantwort. Alle Zellen (einschließlich endothelialer Zellen), die Stress unterschiedlicher Formen ausgesetzt werden, exprimieren HSP. Während einer Infektion stellen bakterielle HSPs nun eine zusätzliche antigene Belastung dar. Das Immunsystem des Wirts ist in diesen Fällen nicht immer in der Lage, zwischen bakteriellen und autologen HSPs zu differenzieren, so dass im Laufe einer parodontalen Infektion kreuzreaktive T-Lymphozyten aktiviert und Antikörper gebildet werden, die eine Autoimmunreaktion gegen Wirtsgewebe mit ähnlicher Antigenität hervorrufen können
23. Im Falle der Atherosklerose konnte gezeigt werden, dass Endothelzellen ein als hHSP60 bezeichnetes humanes HSP exprimieren. Herausgefunden wurde aber auch, dass verschiedene parodontopathische Bakterienspezies ihr eigenes HSP60 bilden, das dem autologen Stressprotein sehr ähnlich ist. Die bakteriellen HSPs induzieren schließlich die Synthese zielgerichteter Antikörper, die dann die Wirtszellen attackieren können. Verschiedene Studien zeigen, dass eine parodontale Infektion auf dem Wege molekularer Mimikry-Mechanismen zur Entstehung von Atherosklerose und kardiovaskulärer Erkrankungen beitragen kann
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Diagnose der parodontalen Erkrankung
Im Allgemeinen beginnt eine parodontale Erkrankung mit nur wenigen oder gar keinen klinischen Symptomen. Der Hauptgrund, aus dem Besitzer beim Tierarzt eine Untersuchung der Maulhöhle ihres Tieres verlangen, ist Foetor ex ore. Eine genaue Diagnose kann sich in diesen Fällen aber nicht allein auf die Adspektion der Maulhöhle stützen. Ganz wesentlich ist eine sorgfältige parodontale Untersuchung einschließlich einer Untersuchung mit einer Parodontalsonde (Abbildung 2) und intraoraler Röntgenaufnahmen unter Allgemeinanästhesie. Erhältlich sind verschiedene Arten von Parodontalsonden, alle Sonden dienen letztlich jedoch der Messung der Tiefe der Parodontaltaschen und der Beurteilung von gingivaler Hyperplasie bzw. gingivaler Rezession. Mit der Parodontalsonde können zudem der Grad der Zahnlockerung und das Vorhandensein von Furkationsbefall in zwei- oder dreiwurzeligen Zähnen beurteilt werden (Abbildung 3). Für die Messung der Taschentiefe wird die Spitze der Sonde an mehreren Stellen vorsichtig in den Sulcus gingivalis eingeführt (Abbildung 4 und 5). Für eine vollständige Beurteilung wird der gesamte Umfang jedes einzelnen Zahnes an vier bis sechs Punkten sondiert, da zum Beispiel auf der bukkalen Seite offenbar gesunde Zähne palatinal oder lingual durchaus tiefe Taschen aufweisen können. Sämtliche Befunde werden sorgfältig auf einer Zahnbefundkarte dokumentiert, um schließlich den Zahnstatus des Patienten in seiner Gesamtheit beurteilen zu können.